| Ein Programm  ohne Ausweg aus der Lohnarbeit Thesen zum Arbeitsbegriff und zur  Sozialpolitik im Programmentwurf der Partei DIE LINKE von Edith  Bartelmus-Scholich 
 1. Dreh- und Angelpunkt: Die Lohnarbeit
 
 Die Zentralität der Erwerbsarbeit und insbesondere der  Lohnarbeit und deren übermäßige Wertschätzung durchzieht den gesamten  Programmentwurf der Partei DIE LINKE, wenn auch ein weiter gefasster  Arbeitsbegriff verbunden mit der sogenannten Vier-in-Einem-Perspektive (1) in  einigen Passagen eingeführt wird. Der Programmentwurf orientiert in jeder Beziehung  auf die Lohnarbeit als "normales" und normatives Arbeits- und  Produktionsverhältnis. Die AutorInnen haben die Unterwerfung unter die  kapitalistische Produktionsweise offenbar so verinnerlicht, dass sie die  Überwindung der Lohnarbeit nicht einmal in Erwägung ziehen. Vielmehr sehen sie  diese Unterwerfung noch für weitere Generationen als gegeben an.
 
 Auf das Schwinden und den Wandel von  Lohnarbeitsverhältnissen, auf Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung finden  sie nur eine Antwort: Vollbeschäftigung unter den Bedingungen "guter  Arbeit". Dieser Ansatz verspricht, dass Lohnarbeit "gute Arbeit"  sein kann und bleibt damit im System stecken. Das Gegenteil ist richtig:  Lohnarbeit ist nie "gute Arbeit"; denn sie dient immer der (privaten)  Abschöpfung von Mehrwert und bleibt immer fremdbestimmt. Diese Feststellung  steht nicht im Widerspruch dazu, dass es durchaus lohnenswert und machbar ist,  Verbesserungen auch im Rahmen von Lohnarbeitsverhältnissen zu erkämpfen.
 
 Dabei sind die beiden Ziele, Vollbeschäftigung und  "gute Arbeit" unter den Bedingungen der Globalisierung der  Produktionsketten und fortschreitender Automatisierung der industriellen  Produktion ferner sind denn je. Weniger als die Hälfte der  Lohnarbeitsverhältnisse in der BRD sind heute noch existenzsichernd,  sozialversicherungs- und mitbestimmungspflichtig. Zudem wird die "neue  Exklusivität" der Lohnarbeit mit erschwerten Zugängen zu  Arbeitsverhältnissen und Anforderungen wie einer vollständigen Einspeisung  aller Persönlichkeitsressourcen in den Arbeitsprozess in ihrer  Widersprüchlichkeit nicht ausreichend beschrieben.
 Getrieben wird der Wandel der Lohnarbeit vor allem von einer  tendenziell sinkenden Profitrate seit den siebziger Jahren des vergangenen  Jahrhunderts und dem technologischen Fortschritt. Neue Anforderungen an eine  breite Schicht von Lohnarbeitenden folgen diesen Entwicklungen.
 
 Die Produktion von Waren und Dienstleistungen in den  entwickelten Industrieländern unterliegt Arbeitsverdichtung und  Verwissenschaftlichung wie nie zuvor. Zusätzlich wird von den Beschäftigten  verlangt, unternehmerisch zu denken, also die Bedingungen ihrer eigenen  verschärften Ausbeutung mit zu optimieren, ihr ganzes Leben und nicht bloß die  Arbeitszeit dem Produktionsprozess unterzuordnen sowie ihre ganze  Persönlichkeit und nicht bloß ihr Wissen in den Produktionsprozess  einzuspeisen.
 
 Diese Anforderungen schließen einen Teil der Lohnarbeit  Nachfragenden systematisch und praktisch von der Beschäftigung aus. Lohnarbeit  dieses Zuschnitts wird exklusiv, nicht nur, weil die Ausbildungen komplex sind,  sondern auch weil der Zugang zu ihr über  den Habitus der Person und  soziale Codes, mit denen die vollständige Integration der Persönlichkeit in den  Produktionsprozess angeboten wird, geregelt wird. Gleichzeitig ist der  Verschleiß so ausgepresster Arbeitskraft enorm und zu ihrer Reproduktion muss  viel aufgewendet werden.
 
 2. Unzureichend: Analyse der Produktionsweisen und  -verhältnisse
 
 Die Zentralität der Lohnarbeit und ihre übermässige  Wertschätzung  im Programmentwurf gründen auf einer mangelhaften Analyse  von Wirtschaft und Gesellschaft. Lohnarbeit ist für die Reproduktion der  Gesellschaft nicht so zentral wichtig, wie dargestellt. Zugespitzt formuliert,  ist Lohnarbeit nur für die Reproduktion der Akkumulation des Kapitals in einer  bestimmten historischen Formation des Kapitalismus zentral wichtig.
 
 Derzeit  erleben wir, wie der Akkumulationsprozess des Kapitals sich wandelt.
 Die Gesellschaft hingegen kann sich nicht nur theoretisch  ohne Lohnarbeit reproduzieren, sie tut es auch größtenteils. Weit mehr als die  Hälfte der in der BRD geleisteten Arbeit (96 Mrd. Stunden) sind unbezahlte  Arbeitstunden außerhalb der Erwerbsarbeit (56 Mrd. Stunden). Ohne diese Arbeit,  die überwiegend in Haushalten und von Frauen, aber auch im Ehrenamt oder in  freiwilligen Kooperationen (freie Software, künstlerische Werke, Trends und  Ideen) geleistet wird, würde die Gesellschaft sich nicht reproduzieren können.
 
 Mehr noch: das System der kapitalistischen Akkumulation  würde sich ohne die unbezahlte Arbeit auch nicht reproduzieren können. Das  Einfließen der unbezahlten Arbeit in der Gesellschaft unter anderem zur  Reproduktion der Arbeitskraft, aber auch zur Produktion von gesellschaftlichen  Zusammenhängen, Ideen etc. in den Prozess der Mehrwertproduktion ermöglicht  erst die kapitalistische Akkumulation. Alle auf dem Markt befindlichen Waren  und Dienstleistungen enthalten (über die in Lohnarbeit geleistete Mehrarbeit  hinaus) einen Arbeitsanteil, der nicht bezahlt wird. Die in den Produktionsprozess  einfließende nicht bezahlte Arbeit dient dabei nicht nur zur Vergrößerung der  Profite, sondern dient zudem zur Hierarchisierung der Arbeitsformen in der  Gesellschaft.
 
 Die neben der Warenproduktion existierenden  Produktionsweisen, z.B. die häusliche Produktion (Erziehung, Sorge und Pflege)  oder die Produktion in freien Kooperationen (freie Software, künstlerische  Werke, Trends und Ideen) sowie das tradierte Wissen werden - ebenso wie die  rücksichtslose Ausbeutung von Naturschätzen -  von den AutorInnen des  Entwurfs nicht als solche begriffen. Es geht unter, dass es keine  kapitalistische Produktion ohne diese räuberische Aneignung von Bestandteilen  der nicht kapitalistischen gesellschaftlichen Produktionsweisen gibt und, dass  diese räuberische Aneignung zur Stabilisierung der Profitrate unverzichtbar  ist.
 
 3. Vergessen: Klassenkämpfe jenseits der Lohnarbeit
 
 Analog zur mangelhaften Analyse der Produktionsweisen und  -verhältnisse werden Klassenkämpfe jenseits der Lohnarbeit nicht als solche  eingeordnet. Dies betrifft sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart. Die  lange Tradition der Kämpfe um ein Existenzrecht wird im Programmentwurf an  keiner Stelle erwähnt. Der Widerstand von Bauern, Seeleuten und Sklaven gegen  Ausbeutung und Unterdrückung und ihre langen Traditionen gelebter Gegenentwürfe  spielen keine Rolle (2).
 
 Der Entwurf kennt nur das Recht auf Arbeit. Dieses ist  jedoch gemessen an dem Recht auf Existenz eine Forderung, in der sich stets die  Unterordnung unter die Bedingungen der Mehrwertproduktion wiederspiegelt. Das  Recht auf Arbeit als Lohnarbeit zu fordern, bedeutet die Herrschafts- und  Ausbeutungsverhältnisse verinnerlicht zu haben und sie nicht zu überwinden.  Demgegenüber ist das Recht auf freie Arbeit, als frei gewählte, gesellschaftlich  nützliche Tätigkeit, ein Menschrecht, welches sowohl Teilhabe als auch  Selbstverwirklichung ermöglicht.
 
 Mit den Kämpfen um ein Existenzrecht ist übrigens auch die  anarchistische Tradition der subalternen Klassen aus dem Programmentwurf  verschwunden. Als Arbeiterbewegung wird wohl nur noch anerkannt, was auf die  marxistische Tradition zurückzuführen ist. Vermutlich ist dieser Einengung auch  ein positiver Bezug auf die revolutionäre  Pariser Commune zum Opfer  gefallen, die wesentlich von AnarchistInnen geprägt war. (3)
 
 4. Ausgeblendet: Aktuelle Klassenformierungsprozesse
 
 Die mangelhafte Analyse zieht nach sich, dass aktuelle  Klassenformierungsprozesse im Programm unerwähnt bleiben. Die Phänomene der  Prekariserung von Lohnarbeit und der Umbau vom Wohlfahrts- zum Workfarestaat  werden dabei zwar teilweise beschrieben, jedoch nur oberflächlich, als  Phänomene deren Wesen nicht erkannt wird.
 
 Dabei wird in allen entwickelten Industriestaaten die  Bildung einer Klasse von Arbeitenden "unterhalb" der doppelt freien  LohnarbeiterInnen vorangetrieben.  Mit Arbeitszwang gegen Alimentierung  weit unter den tatsächlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft, ohne  Möglichkeiten den Lohn zu verhandeln und dabei verminderten politischen und  Bürgerrechten unterscheiden sich diese Arbeitenden deutlich von den doppelt  freien LohnarbeiterInnen. Arbeitskraft soll hier tendenziell nur noch vernutzt  nicht aber langfristig reproduziert werden. Die derartig objektiv wie diskursiv  Deklassierten stellen eine Klasse mit eigenen Interessen dar. Der  Programmentwurf weiß davon nichts und geht auf die Interessenlage dieser in  Entstehung begriffenen Klasse nicht ein.
 
 5. Die Sozialpolitik: Flickschusterei ohne  emanzipatorische Perspektive
 
 Die sozialpolitischen Vorschläge im Programmentwurf bleiben  ohne Bruch mit der Marktlogik und auf die Lohnarbeit fixiert kleine  Nachbesserungen im System. Sie bieten an keiner Stelle einen Einstieg in den  Ausstieg aus dem Kapitalismus. Deshalb sind nachstehende Forderungen  unverzichtbare Reform- und Transformationsprojekte:
 
 Arbeit:
 
 In der Präambel heißt es: "DIE LINKE kämpft...niemand darf mehr  gezwungen werden, Beschäftigung unter Missachtung seiner Qualifikation oder zu  Hungerlöhnen anzunehmen." Diese Formulierung bestätigt Zwangsarbeit unter  bestimmten Bedingungen. Wenn seine Qualifikation beachtet wird und kein  Hungerlohn gezahlt wird, dann darf er gezwungen werden, eine bestimmte Arbeit  anzunehmen.
 
 Rente:
 
 In der Präambel heißt es: "DIE LINKE kämpft für eine armutsfeste  gesetzliche Rente für alle Erwerbstätigen,..." Dies wird in der Passage  "Soziale Sicherheit im demokratischen Sozialstaat" in einem eigenen  Abschnitt noch einmal so bestätigt. Im gleichen Abschnitt heißt es: "Um  Altersarmut zu verhindern, wollen wir eine erhöhte bedarfsgerechte Grundsicherung  im Alter." Das heißt, es gibt keine armutsfeste Rente, sondern  Grundsicherung, was letztlich bedeutet, das Zwei-Klassensystem im Alter bleibt  aufrechterhalten: Erforderlich ist in jedem Fall das Bekenntnis zu einer  Mindestrente um Altersarmut zu vermeiden.
 
 Falsch ist die Feststellung, dass in erster Linie die  Massenarbeitslosigkeit für die Finanzprobleme der Rentenversicherung  verantwortlich ist. Maßgeblicher Grund ist vielmehr die Begrenzung der  Solidarbeiträge auf untere und mittlere Einkommen aus abhängiger Erwerbsarbeit.  Gebraucht wird eine solidarische Bürgerversicherung, in die alle  Einkommensarten einbezogen werden, nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern  ebenso für die Rente. Bei der Rentenhöhe müssen Nichterwerbsarbeitszeiten wie  Kindererziehung oder Erwerbslosigkeit stärker berücksichtigt werden.
 
 Kindergrundsicherung:
 
 Anders als im Wahlprogramm 2009 fehlt die Forderung nach einer  Kindergrundsicherung im Programm. Diese ist jedoch zwingend notwendig zur  Überwindung der Kinderarmut, die seit 2005 ca. 2,5 Millionen Kinder in der BRD  betrifft. In Zeiten, in denen die Bundesregierung unmissverständlich klar  macht, dass die Armen sich nicht reproduzieren sollen und arme Kinder unter das  Existenzminimum drückt, muss eine linke Partei das Recht aller Kinder auf ein  gutes Leben und eine gute Bildung fordern.
 
 Mindestsicherung:
 
 Arbeitslosengeld I und Mindestsicherung werden im Abschnitt "Soziale  Sicherheit im demokratischen Sozialstaat" auf ganzen neun Zeilen  abgehandelt. Ein zentrales Thema der Partei wird quasi en passant erledigt. Es  ist zwar von einer sanktionsfreien Mindestsicherung die Rede, es fehlt aber die  deutliche Unterstreichung wie z.B. "die ihr/ihm unter keinen Umständen zu  entziehen oder zu kürzen ist". Diese Klarstellung ist zumindest dann  notwendig, wenn es bei der Anführung von Zumutbarkeitskriterien bleibt.
 
 6. Alternativ:   Existenzrecht und Befreiung  der Arbeit vom Verwertungszwang
 
 Im Programmentwurf der Partei DIE LINKE wird versäumt die  Vision einer Gesellschaft der Freien und Gleichen ohne fremdbestimmte Arbeit zu  entwickeln und Einstiegsprojekte dazu vorzuschlagen. Grundlage solche  Vorschläge ist jeweils der Bruch mit der Marktlogik. Zentral ist hierbei die  Anerkennung eines Rechts auf Existenz und die Befreiung der Arbeit vom  Verwertungszwang. Das Existenzrecht ist hierbei als das Recht der Person auf  gesellschaftliche Teilhabe und materielle Teilhabe am grundsätzlich  gesellschaftlich erarbeiteten Reichtum aufzufassen.
 
 Mit der Anerkennung des Existenzrechts muss jeder Person ein  Bedingungsloses Grundeinkommen in existenzsichernder Höhe zustehen. (3) Nicht  jede Leistung der Gesellschaft muss den BürgerInnen dabei als individuelles  Einkommen gewährt werden: Freier kostenloser Zugang zum Gesundheitssystem, zum  Bildungssystem und kostenlose Nutzung des ÖPNV durchbrechen ebenfalls die  Marktlogik. Gleichzeitig ist ein mehr als existenzsichernder Mindestlohn sowie  eine deutliche Arbeitszeitverkürzung einzufordern.
 Das Recht auf ein Bedingungslose Grundeinkommen begründet  sich hierbei ebenso aus der Tatsache, dass in die Produktion aller Waren stets  Arbeit einfließt, die nicht bezahlt wurde.
 Mit dem Wegfallen des Zwangs zur Verwertung der Arbeitskraft  würden die Möglichkeiten zur freien, selbstgestimmten Arbeit vergrößert. Die Grundlagen  der kapitalistischen Akkumulation könnten erschüttert werden.
 
 Edith Bartelmus-Scholich, 31.10.2010
 
 Der Artikel basiert auf einem Impulsrefrat der Autorin im  Programm-Workshop des Landesrates der Partei DIE LINKE.NRW am 1.11.2010 in  Düsseldorf
 
 Anmerkungen:
 (1) Zur "Vier-in-Einem-Perspektive" von Frigga  Haug: http://www.vier-in-einem.de/
 (2) Zu den Kämpfen von Bauern, Seeleuten und Sklaven und ihren gelebten  Gegenentwürfen siehe: Peter Linebough & Marcus Rediker: Die vielköpfige  Hydra, Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Assosiation A,  Berlin & Hamburg, 2008
 (3) Zur Aktualität des Kommunekonzepts siehe: gleichnamiger Beitrag der Autorin  unter: http://www.islinke.de/kommunekonzept.htm vom 14.07.06
 (4) Zur Refinanzierung des Grundeinkommens siehe: "Bedingungsloses  Grundeinkommen?  Ja, aber nicht auf Kosten der Armen!" Artikel der  Autorin vom 6.2.09 unter: http://www.scharf-links.de/41.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=3880&tx_ttnews%5BbackPid%5D=56&cHash=6f13bb0fb7
 
 Quelle: www.scharf-links.de
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